Das hat gutgetan

Nachbemerkungen zum Winnender Benefizkonzert für die Albertville-Schule.

Winnenden. Von sorgloser Normalität ist die Winnender Albertville-Realschule nach wie vor weit entfernt. Als umso wohltuender haben Lehrer und Schüler das Benefizkonzert empfunden, das Barbara und Jürgen Marx organisiert haben.

 

 

Szenen eines Konzertes: Vielen Leuten in der Kirche laufen die Tränen, Lehrer spüren das Zusammengehörigkeitsgefühl „wie ein Flimmern in der Hitze“, von den Sängerinnen und Sängern, die sich vor dem Auftritt so beklommen gefühlt haben, fällt die Spannung ab, sie singen sich frei, hinein in einen Begeisterungsschwung, der das Publikum fast von den Bänken hebt, und danach nimmt Barbara Marx wildfremde Menschen in den Arm und drückt ganz fest.

Für Jürgen Marx, den Vater der am 11. März 2009 erschossenen Selina, wurde neulich Abend das alte Bild der Borromäus-Kirche in Winnenden überschrieben von einem neuen. Eingebrannt gewesen war ihm das Arrangement aus Scheinwerfern, Kameras, Sicherheitskräften und Politikern in den ersten Reihen: die Trauerfeier nach dem Amoklauf. Das neue Bild „ist viel schöner“.

Man kann den Erfolg des Konzerts mit dem Neuhausener Chor MixDur beziffern: 2600 Euro eingenommen, 2600 Euro, die der Schulgemeinschaft der Albertville-Realschule zugutekommen.

Aber das ist nur eine Zahl. Der Wert der Veranstaltung reicht tiefer, sagt der evangelische Religionslehrer Martin Gerke, der an der Albertvilleschule die „Ökumenische Schulgemeinde“ mit aufgebaut hat: Dass die Eltern eines ermordeten Mädchens das möglich gemacht haben, „für uns, das find ich Wahnsinn. Eigentlich müssen sie Solidarität von uns kriegen – und jetzt erfahren wir Solidarität von ihnen.“

Von praktischer Nächstenliebe und irritierenden Neid-Debatten

Die ökumenische Schulgemeinde folgt der Idee, aus dem Sinnlosen, das am 11. März 2009 geschah, etwas entstehen zu lassen, das anderen hilft: mehr Achtsamkeit, „praktische Nächstenliebe“. So gesehen ist das Benefizkonzert ein Lehrstück für die Schüler: „Guck mal, denen geht es schlecht – und die sind immer noch für uns da.“ Diese Haltung will sich die Schule zu eigen machen und im nächsten Jahr selber eine Wohltätigkeitsveranstaltung organisieren für Afrika.

Alles Harmonie also? Natürlich nicht. Jürgen Marx „ist zugetragen worden, dass Leute bewusst nicht zum Konzert gehen, weil sie meinen, jetzt reicht’s, denen von der Albertville-Schule schiebt man alles hinten rein“. Es gehört zu den irritierendsten Phänomenen in Winnenden seit dem Amoklauf, dass um die Schule eine Neid-Debatte schwelt: Überdurchschnittliche Lehrerausstattung, öffentliche Aufmerksamkeit und Zuwendung – na, die haben’s aber schön . . .

„Nach anderthalb Jahren muss das ja mal erledigt sein“ – das, sagt Schulleiter Sven Kubick, höre er öfters.

Die Realität sieht anders an. Normalität? „Nee. Normalität ist ein Ziel. Eine neue Normalität.“ Immer noch kommen ehemalige Schüler regelmäßig hierher und sitzen abends in den Containern mit den Schulpsychologen zusammen. Manche der Kinder, die vor anderthalb Jahren als Fünft- oder Sechstklässler ihre Lehrerinnen verloren haben, kämpfen bis heute mit Schlafstörungen. Ab und zu erzählen sie von ihren Träumen – die Bilder, die darin umherspuken, „sind eigentlich erst ab 18“, sagt Martin Gerke.

„Es gibt gute Tage und schlechte Tage“, erzählt Kubick, „und manchmal schaukelt es sich auch hoch unter den Schülern.“ Die schützende Haut über den Nervenbahnen ist immer noch dünn, das fordert allen hohes Gespür ab. Lehrer müssen einem Kind anmerken: Dem geht’s heute’ nicht gut, den nehm ich nicht so dran. Und auch die Jugendlichen müssen mehr Sensibilität für die Pädagogen aufbringen als an anderen Schulen üblich. Es gibt Lehrer, die zunächst wie Uhrwerke funktionierten, sich in die Arbeit stürzten, weil sie das Gefühl hatten, jetzt komme es ganz stark auf sie an – und irgendwann, aus heiterem Himmel, überfällt sie eine schwarze Erinnerung und zieht sie in ein Loch. Für manche, sagt Kubick, werde „erst nach zwei Jahren der Tiefpunkt erreicht“ sein.

Auch der Schritt zurück aus den Containern ins Schulgebäude wird kein leichter sein. Wenn an dem Ort, der mit solch grellen Gedächtnisreizen aufgeladen ist, krachend ein Stuhl umfällt – „was das in einem Kollegen oder einem Schüler auslösen kann, darauf müssen wir uns vorbereiten“. Die banalsten Ereignisse können einen Erinnerungsblitz auslösen, der mit retraumatisierender Wucht einschlägt.

Kubick, der die Albertville-Schule erst nach dem Amoklauf kennengelernt hat, spürt hier aber auch einen guten Geist, der über all diese Klippen letztlich hinwegtragen könnte: Lehrer helfen einander gegenseitig – das gehe so weit, dass einer, wenn er merkt, dass ein Kollege durchhängt, für ihn kurzentschlossen eine Unterrichtsstunde übernimmt. „Was man hier sofort spürt“, erzählt Kubick, „ist der gute Umgang. Dass Schüler einem einen schönen Tag wünschen – das war ich nicht gewohnt.“

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