Verschmolzene Erinnerung

Ein Meer aus tausend Kerzen. Die meisten, die am 11. März 2009 und in den Tagen danach vor der Albertville-Realschule standen, sind längst heruntergebrannt. Einige hat der Wind ausgepustet. Auf vielen steht eine Widmung. Jede aber steht für individuelle Erinnerungen, für Schmerz und für Liebe. Nun will die ökumenische Schulgemeinde der Albertville-Realschule das Wachs weiterverabeiten.

In über 60 Kartons wurden sie bislang in einem Feuerwehrhaus aufbewahrt. Nun haben Schüler und Lehrer der ökumenischen Schulgemeinde der Albertville-Realschule beschlossen, sie einzuschmelzen.

„Es ist wichtig, dass hier etwas Neues entsteht. Dass die Erinnerung weiterlebt. Auch für diejenigen, die die Kerzen aufgestellt haben, ist es sicher schön, zu wissen, dass diese nun für die Erinnerung weiterbrennen werden“, erklärt Martin Gerke, evangelischer Religionslehrer und neben seinem katholischen Kollegen Heinz Rupp eine der Triebfedern der ökumenischen Schulgemeinde.
„Stellt euch doch unter das Zelt in den Schatten und zieht Handschuhe an“, ruft Rupp in der Zwischenzeit. Es geht hier nicht um große Worte, sondern um gefühlte Gemeinsamkeit, um Erleben, um Taten.

„Ich bin so dankbar, dass die Schulgemeinde und auch die Firma Kärcher mithelfen, das Gedenken auch an meine Tochter aufrechtzuerhalten“, sagt Barbara Nalepa, deren Tochter Nicole am 11. März 2009 erschossen wurde. Sie zieht Arbeitshandschuhe an und nimmt ein Grablicht aus dem Karton. „Für Chantal“, liest sie laut vor, dreht das Grablicht dreimal in ihrer Hand und nimmt dann entschieden den Schraubenzieher, um das Wachs aus der roten Hülle zu lösen. Das geht nicht immer leicht. Für Barbara Nalepa schon gar nicht. Den Schmerz, den sie fühlt, können andere so nicht nachempfinden. Trotzdem ist es für sie gut, dass hier Menschen mit ihr an einem gemeinsamen Projekt arbeiten. Menschen, denen die Erinnerung an die Verstorbenen ebenso wichtig ist.
Es ist nicht einfach, die treffenden Worte zu finden

20 Realschüler, darunter auch ehemalige, stehen vor der Containerschule und kratzen Grablichter mit Löffeln und Schraubenziehern aus. Nach zwei Stunden haben sie sechs Kartons randvoll mit Kerzenresten und zwei Fässer zu über 100 Litern geschafft. Nach den Sommerferien wird weitergemacht.
Auch drei Lehrer und betroffene Eltern sind dabei und Helge Hinrichs, Mitarbeiter der Firma Kärcher und ebenfalls Mitglied des Elternbeirats der Albertville-Realschule. Hinrichs schleppt weitere Kartons mit Kerzen und Bierbänke heran. Die Getränkekästen und Arbeitsutensilien stehen schon im Schatten neben dem Arbeitsplatz. Die Firma Kärcher unterstützt die Schulgemeinde finanziell und praktisch, das herausgelöste Wachs und Parrafin wird „geschmolzen und je nach Siedepunkt getrennt und anschließend so verarbeitet, wie es am besten brauchbar ist“, erklärt Hinrichs.

Zwei Projekte sollen entstehen: mehrere Kerzen, die von nun an immer an der Gedenkstätte an der alten und später neuen Schule für die Opfer des Amoklaufs brennen sollen. „Es geht um die Idee des ewigen Lichts, um das Wachhalten der Erinnerung“, erklärt Heinz Rupp. Und ein Kunstprojekt für den Gedenkraum in der Albertville-Realschule, momentan im Container, später in der neuen Schule, das unter der Leitung von Kunstlehrerin Melanie Elser entstehen soll. Es ist nicht einfach, für die komplexe Symbolik treffende Worte zu finden. Viele Ideen, die erst nach und nach eine konkrete Form finden sollen.

„Im Herbst fragten wir uns, was wir mit den vielen Kerzen machen sollen und ob ich nicht Lust hätte, mit den Schülern eine Idee zu entwickeln“, erzählt Kunstlehrerin Melanie Elser, die das Wachsprojekt für den Gedenkraum betreut.
Die Schüler waren sich schnell einig: Die Erinnerung an die Opfer soll in den Mittelpunkt gerückt werden. Es darf kein Vergessen geben. Ein Mobile war die erste Idee, die sie aber schnell verwarfen, aus praktischen Gründen: „Ein Mobile braucht viel Platz, aus Wachs ist es zu fragil“, erklärt Melanie Elser.
Neben dem Fass, vor dem Barbara Nalepa arbeitet und mit einer Mutter spricht, drängen sich Mädchen und Jungen um ein weiteres Fass. Sie versuchen, ihre Kleidung nicht mit Paraffin-Flecken zu verschmutzen. Die Mädchen verabreden sich für den Winnender Citytreff, diskutieren, welchen Beruf sie nach der Schule anstreben, und natürlich über Jungs. Auch für sie ist die gemeinsame Erinnerung wichtig. Die echte Gemeinschaft ist die Basis für einen Neuanfang, der den Schrecken und die Trauer nicht verdrängt, sondern aufarbeitet und Kraft schafft für Gutes. Nur so können sie wieder fröhlich sein.
Ein blondes Mädchen scherzt mit dem Religionslehrer Martin Gerke. Jetzt nach der Schule ist das „Du“ in Ordnung. Sie will ins Ausland gehen, nach Italien. Ob sie sich freut, die Schule fertig zu haben? Ganz kurz wird sie ernst. „Nein, überhaupt nicht“, sagt sie und schaut die anderen Schüler an. Dann lacht sie wieder.

„Die Schüler sollen bei uns die Verantwortung übernehmen“
„Bitte kommt und helft! Frau Nalepa würde sich auch riesig freuen“, hatte Grazia Fazio auf ihre Facebook-Pinnwand geschrieben. Grazia hat 2009 ihren Realschulabschluss gemacht. Sie geht nun in Schorndorf zur Schule, hat viel Stress zwischen Prüfungen und Zahnarzttermin. Aber sie kommt regelmäßig zu den Treffen der Schulgemeinde. Dort wird sie verstanden. Mit allem, was sie miterleben musste. Und mit ihren Versuchen, wieder mehr Fröhlichkeit zu leben. Grazia ist die Organisatorin der Kerzenaktion. Auch das entspricht dem Selbstverständnis der ökumenischen Schulgemeinde. „Auch wenn dann nicht immer alles auf Anhieb klappt, die Schüler sollen bei uns die Verantwortung übernehmen. Sie sollen mitbestimmen“, erklärt Heinz Rupp. Er hält sich im Hintergrund und schneidet Grablichter auf, um das Auslösen zu erleichtern.
Auch für Fremde, die mitarbeiten dürfen, ist es gut, endlich etwas tun, endlich ein bisschen Anteilnahme zeigen zu können, anstatt mühsam Worte zu suchen, die sowieso nicht passen können. „Wir wollen uns ja öffnen“, erklärt Religionslehrer Heinz Rupp. Aber das sei ein Prozess, der Zeit braucht. Das Kerzenprojekt ist Teil davon. Ein Neuanfang, der nicht vergisst.

Quelle: Waiblinger Kreiszeitung vom 21.07.2010

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